Fachartikel vom 14.06.2012

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Oberflächendefekte an Spritzgießbauteilen eliminieren

Dipl.-Ing. Sascha Zavoral, Prof. Dr.-Ing. Elmar Moritzer, Dr.-Ing. Rainer Kleeschulte, K-Lab an der Universität Paderborn

Der zunehmende Bedarf und der damit verbundene Preisanstieg für Rohstoffe prägen die Forschungen bezüglich energieeffizienter Fertigungsverfahren maßgeblich. Die Produktion eines industriell gefertigten Kunststoffformteils fordert einen hohen Energieumsatz. Ein bestehendes Optimierungspotential zur Reduzierung des Energiebedarfs wird auch im Bereich der Kunststoffverarbeitung stetig ausgeschöpft, um die einzelnen Prozessschritte effizienter zu gestalten. Zudem beeinflusst der hohe Qualitätsanspruch an das Produkt das Bestreben, die Fertigung möglichst fehlerlos und somit ausschussreduziert zu realisieren, um die Herstellungskosten zu minimieren.

Die Bauteilherstellung im Spritzgießverfahren ermöglicht die Abformung komplexer Geometrien. Dies legitimiert den Einsatz des Produktionsverfahrens für alltägliche Konsum- und technische Funktionsgüter. Das gefertigte Produkt muss mit den vereinbarten Forderungen des Kunden in vollem Umfang korrespondieren. Gerade im Automobil- und Medizinsektor werden höchste Anforderungen an die Bauteilqualität gestellt. Etwaige Produktions- oder Formteilfehler sind inakzeptabel und somit generell zu vermeiden.

Oberflächendefekte an einem Spritzgießbauteil
Treffen erkaltete Schmelzefronten in einem formgebenden Werkzeug aufeinander oder vereinen sich nach einem Durchbruch im Formteil wieder zu einer Fließfront, entstehen Bindenähte. Die fehlenden Molekülverschlaufungen der aufeinandertreffenden Fließfronten führen zu den benannten Oberflächenfehlern. Neben den optisch und haptisch wahrnehmbaren Bindenahtmarkierungen auf der Bauteiloberfläche liegt die Festigkeit der Bindenaht zum Teil deutlich unter der eines vergleichbaren Formteils ohne Bindenaht. Als Grund für die verminderte Festigkeit von Bindenähten werden in der Literatur drei Teilursachen genannt:
Abb. 1: Ursachen für eine Bindenaht [Kim86]
Abb. 1: Ursachen für eine Bindenaht [Kim86]

  1. Mangelnde Interdiffusion der Makromoleküle über die Grenzfläche der Bindenaht infolge niedrigerer Temperaturen
  2. Orientierung der Makromoleküle parallel zur Bindenaht infolge des Strömungsverhaltens von Polymeren (vgl. auch Abbildung 1)
  3. Entstehung einer sogenannten V-Kerbe, die an der Oberfläche der gesamten Bindenaht vorliegt

Sofern die Entstehung der Bindenähte konstruktiv nicht vermeidbar ist, treten weiterführende Ansätze zur Kaschierung oder Eliminierung derartiger Oberflächendefekte in den Fokus. Um ein besseres Durchströmen einer entstehenden Bindenaht zu realisieren, kann gegebenenfalls der Anguss derart verlegt werden, dass sich die Bindenaht im vorderen Bereich des Fließweges befindet. Dies begünstigt die Durchmischung der Fließfronten im Bereich einer Bindenaht.

Innovatives Temperierverfahren in der Spritzgießtechnologie
Die Qualität eines durch Spritzgießen hergestellten Kunststoffformteils wird maßgeblich durch die Temperaturführung in den Formwerkzeugen mitbestimmt. Es ist demnach naheliegend, im Sektor innovativer Temperiertechnologien mögliche Forschungsansätze zu eruieren. Die Technologie der dynamischen Formnesttemperierung wird in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit intensiv betrachtet. Die Gesellschaft Wärme Kältetechnik mbH GWK in Kierspe hat mit dem Dynamic Mould Heating (DMH) Verfahren eine Technik erarbeitet, mit welcher eine lokale kavitätsnahe Temperierung mittels Hochleistungskeramiken realisiert werden kann. Es ist seit einigen Jahren bekannt, dass Bindenahtkerben durch Temperaturen der Werkzeugwand nahe der Glasübergangs- oder Kristallitschmelzetemperatur während der Formfüllung vermieden werden können [Kun08]. Eine Platzierung der sogenannten CPH (Ceramic Power Heating) im Bereich einer entstehenden Bindenaht ermöglicht ein gezieltes, lokal begrenztes Temperieren, um das Aufeinandertreffen kalter Schmelzefronten zu vermeiden.

Experimentelle Untersuchungen zur Kaschierung einer Bindenaht
Abb. 2: Schulterstäbe aus differenten Thermoplasten (von oben nach unten: Magnum ABS, Lupilon PC, Pocan PBT mod. PET, Lexan PC, Ultramid PA6 GF30, Bayblend PC+ABS)
Abb. 2: Schulterstäbe aus differenten Thermoplasten (von oben nach unten: Magnum ABS, Lupilon PC, Pocan PBT mod. PET, Lexan PC, Ultramid PA6 GF30, Bayblend PC+ABS)
Voruntersuchungen der GWK zur Kaschierung der Bindenaht intensivierten die Motivation, diese Technologie der Werkzeugtemperierung bei verschiedenen thermoplastischen Werkstoffen einzusetzen, um den Einfluss der kavitätsnahen Temperierung auf die optische und haptische Verbesserung der Bindenaht weiterführend zu untersuchen. Die experimentellen Untersuchungen wurden am K-Lab in Paderborn durchgeführt. Das technische Equipment zur dynamischen Formnesttemperierung besteht aus dem Mehrkreistemperiergerät Integrat Evolution, welches über entsprechende Module die Hochleistungseinsätze steuert. Als Spritzgießmaschine wurde eine KraussMaffei KM 160/750 CX DUR mit einem Thermoplast-Aggregat eingesetzt. Als Spritzgießform wird eine 1-fach Kavität zur Herstellung der in Abbildung 2 dargestellten Schulterstäbe eingesetzt.

Zu Beginn der experimentellen Untersuchungen erfolgte eine Auswahl verschiedener Thermoplaste, um in den Untersuchungsreihen sowohl amorphe und teilkristalline sowie verstärkte und unverstärkte Materialien zu verwenden. Der Fokus lag auf gängigen Materialien, welche im industriellen Alltag zur Anwendung kommen. Im Folgenden wurde der Einfluss einzelner Prozessparameter auf die Bauteilqualität im Allgemeinen und die Bindenahtqualität im Besonderen analysiert. Neben der Masse- und Werkzeugtemperatur wurde zudem die Einspritzgeschwindigkeit sowie der Nachdruck und Staudruck variiert. Als Zielgrößen wurden neben der Festigkeit auch der Energieaufwand sowie die Zykluszeit betrachtet. Die primäre Beurteilung der spritzgegossenen Schulterstäbe basiert jedoch auf deren optischer und haptischer Beschaffenheit.
Abbildung 3 zeigt einen anonymisierten Versuchsplan, welcher im Anschluss mit den materialspezifischen Verarbeitungseigenschaften ergänzt wurde.

Abb. 3: Anonymisierter Versuchsplan der experimentellen Voruntersuchungen
Abb. 3: Anonymisierter Versuchsplan der experimentellen Voruntersuchungen
Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Variation der Prozessparameter lediglich einen bedingten Einfluss auf die optische Qualität der Bindenaht hat. Jedoch ist dieser Einfluss materialspezifisch zu beurteilen. Nach Bearbeitung der erstellten Versuchspläne und anschließender visueller Bewertung des Bindenahtbereichs erfolgte eine punktuelle Überprüfung des Einflusses der DMH-Temperierung auf den Bereich der Bindenaht. Hierzu wurde die Temperatur der Heizkeramiken sukzessive bis zum Erreichen der Glasübergangs- oder Kristallitschmelzetemperatur des jeweiligen Materials erhöht. Im Anschluss daran erfolgte erneut eine visuelle Betrachtung und Bewertung des Bindenahtbereichs. Abbildung 4 zeigt beispielsweise den Bereich der Bindenaht eines Magnum 3513 ABS Resin. Hier ist deutlich erkennbar, dass der Schulterstab, hergestellt ohne DMH-Temperierung, eine Bindenaht aufweist. In einem zweiten Schritt wurde die DMH-Temperatur, beginnend mit der Werkzeugwandtemperatur, jeweils um 10°C erhöht, bis die entsprechende Temperatur zur Kaschierung der Bindenaht erreicht wurde. Bei einer Temperierung der Heizkeramiken auf 110°C und einer Werkzeugwandtemperatur von 60°C ist die Bindenaht optisch vollständig kaschiert. Dieses Ergebnis wurde ebenfalls mit den entsprechenden materialspezifischen Parametern für ein unverstärktes PA66-6 sowie ein PC/ABS erreicht. Für gefüllte oder faserverstärkte Materialien konnten optische Verbesserungen des Bindenahtbereichs bisher nur bedingt erreicht werden. Dies ist vorwiegend in der Faserorientierung (Abbildung 1) der entsprechenden Materialien zu begründen. Die Faserorientierung der Fließfront quer zur Grenzfläche erschwert die Kaschierung einer entstehenden Bindenaht.

Abb. 4: Identische Prozessparamter, mit und ohne (unten) DMH-Temperierung
Abb. 4: Identische Prozessparamter, mit und ohne (unten) DMH-Temperierung
In Bezug auf eine erreichbare Festigkeitssteigerung der Bindenaht durch DMH-Temperierung wurden ebenfalls erste Voruntersuchungen durchgeführt. Abbildung 5 zeigt die Steigerung der Zugfestigkeit für ein 20% glasfaserverstärktes PA12. Die Herstellung der einzelnen Schulterstäbe erfolgte durch schrittweise Variation der Keramiktemperatur bei unveränderten Prozessparametern. Bei einer Werkzeugwandtemperatur von 60°C sowie einer DMH-Temperatur von 120°C kann eine Festigkeitssteigerung von ca. 9,5% bestimmt werden. Eine weitere Anhebung der DMH-Temperatur reduziert die Festigkeit sukzessive, obwohl die Kristallitschmelzetemperatur des PA12 erst bei 178°C liegt. Ab einer DMH-Temperatur von 120°C zeigen sich erste Einfallstellen auf der Bauteiloberfläche. Neben der optischen Beeinträchtigung wird hierdurch auch die Festigkeit der Bindenaht reduziert.

Anhand dieser Feststellung zeigt sich, dass der Einsatz der DMH-Temperierung zur Steigerung der Bindenahtfestigkeit durchaus geeignet sein kann, es jedoch weiterführenden Untersuchungen bedarf, um mögliche materialspezifische Regelmäßigkeiten zu erarbeiten.

Fazit und Ausblick
Das optische Kaschieren der Bindenaht ist grundsätzlich realisierbar, jedoch muss auch hier materialspezifisch differenziert werden. Die gewonnenen Ergebnisse zur Eliminierung einer Bindenaht deuten bisher auf den Einsatz der DMH-Temperierung für die Verarbeitung unverstärkter Materialien hin.

Im Anschluss an diese Untersuchungsreihe sollte fortführend der Einfluss der Heizdauer sowie die Höhe der DMH-Temperatur materialspezifisch untersucht werden. Ferner ist es sinnvoll, die DMH-Temperatur und die Zykluszeit als Zielgrößen in einen entsprechenden Versuchsplan mit aufzunehmen. Dies ist hinsichtlich eines denkbaren energetischen Vorteils durch dynamische Formnesttemperierung unumgänglich.

Abb. 5: Festigkeitssteigerung durch DMH-Temperierung
Abb. 5: Festigkeitssteigerung durch DMH-Temperierung
Neben der Kaschierung einer Bindenaht kann, wie durch erste Voruntersuchungen ermittelt, eine Festigkeitssteigerung im Bereich der Bindenaht durch den Einsatz dynamischer Formnesttemperierung erreicht werden. Die Voruntersuchungen zur Steigerung der Bindenahtfestigkeit durch den Einsatz der Heizkeramiken zeigen vielversprechende Ansätze, hier ebenfalls anknüpfende Untersuchungsreihen durchzuführen. Weiterführend sollte eine Abhängigkeit der Festigkeit von der Wanddicke des Bauteils und der Position der Bindenaht untersucht werden. Zudem müssen die grundsätzlichen Wirkmechanismen einer lokalen Formnesttemperierung in Bezug auf optische Kaschierung sowie Steigerung der Bindenahtfestigkeit eingehend untersucht werden.

[Kun08] Die variotherme Temperierung wird produktionstauglich, Carl Hanser Verlag, München 08/2008, Seite 87-92, Giessauf, Josef; Pillwein, Georg; Steinbichler, Georg; www.kunstoffe.de/Kunststoffe-Archiv

[Kun11] Mehr Glanz, weniger Bindenähte, Carl Hanser Verlag, München 07/2011, Seite 35-38, Berger, Gerald; Roock, Susanne; Steinbichler, Georg; www.kunstoffe.de/Kunststoffe-Archiv

[Kim86] Kim, S.-G.; Suh, N.P. (1986) Performance Prediction of Weldline Structure in Amorphous Polymers. Polym. Eng. Sci. 26(17):1200–1206


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