Fachartikel vom 04.04.2011

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Glasfaserverstärktes Polyamid 66 senkt Fertigungskosten und Gewicht

Dr.-Ing. Luca Posca, LATI Industria Termoplastici Deutschland GmbH

Mit der Substitution einer Zinkdruckguss-Legierung durch ein glasfaserverstärktes Polyamid 66 gelang Effegi Brevetti eine Reduktion der Fertigungskosten und des Bauteilgewichts seiner ‚EVO‘ Möbelbeschläge für High-End-Küchen. Der eingesetzte Kunststoff besitzt sehr gute mechanische Eigenschaften, lässt sich gut einfärben und ermöglicht hochglänzende und hochwertige Oberflächen. Zudem erfüllt er die Anforderungen des Herstellers nach einer langen Lebensdauer des Bauteils.

In vielen Anwendungsbereichen haben technische Kunststoffe bereits Metalle wie Aluminium, Magnesium oder Stahl ersetzt. Und der Trend setzt sich ungehindert fort. Denn Kunststoffe bieten gegenüber metallischen Werkstoffen zahlreiche Vorteile: Sie bieten eine höhere Gestaltungsfreiheit, tragen zur Gewichtsreduktion bei, und durch die Integration von Funktionselementen lassen sich zusätzliche Montageschritte vermeiden und die Bauteilkosten senken. Zudem ist es Rohstoffherstellern und Compoundeuren dank intensiver Entwicklungsarbeit gelungen, die Eigenschaften von technischen Kunststoffen denen der Metalle immer mehr anzunähern.

Durch die intensive Zusammenarbeit mit dem italienischen Compoundierspezialisten LATI Industria Termoplastici, Vedano Olona, ist es Effegi Brevetti gelungen, bei mehreren Elementen einer Premium-Möbelbeschlagserie eine Zinkdruckguss-Legierung durch ein glasfaserverstärktes Polyamid 66 zu ersetzen. Ziel des Projekts war eine Reduktion des Gesamtgewichts des Scharniersystems sowie eine Verringerung der Fertigungskosten.

Komplexe Anforderungen

Effegi Brevetti fertigt Beschläge für High-End-Küchen und -Möbel. Entsprechend hoch sind die Anforderungen an die Haltbarkeit und die ästhetische Erscheinung seiner Produkte.

Bei dem Scharniersystem "EVO" handelt es sich um ein komplexes Bauteil, das aus mehreren Komponenten besteht:
  • der Grundplatte, die am Schrank befestigt wird und die beweglichen Teile des Scharniers aufnimmt,
  • mehreren Hebeln sowie einer Gasdruckfeder, die für ein leichtgängiges Öffnen und Schließen der Tür sorgt,
  • einer weiteren Platte, die die Scharnieraufnahme komplettiert,
  • einer Schutzabdeckung,
  • einer kleineren Platte, die zur Befestigung des Scharniersystems an der Tür dient.

Bild 1. Die mit dem Original-Druckgusswerkzeug hergestellten Kunststoffplatten versagten bereits beim Montieren der Gasdruckfeder und waren somit unbrauchbar.
Bild 1. Die mit dem Original-Druckgusswerkzeug hergestellten Kunststoffplatten versagten bereits beim Montieren der Gasdruckfeder und waren somit unbrauchbar.
In einem ersten Schritt war geplant, lediglich die Grundplatte, die direkt an die Seitenwand eines Hängeschranks montiert wird sowie die beweglichen Teile des Scharniers aufnimmt, durch ein entsprechendes Kunststoffbauteil zu ersetzen.

Als Werkstoff sollte ein glasfaserverstärktes Polyamid (PA) zum Einsatz kommen.

Die ersten Prototypen wurden mit dem vorhandenen Druckgusswerkzeug gefertigt. Ziel war die Analyse des Bauteilverhaltens der Kunststoffvariante sowie die schrittweise Optimierung der Bauteilgeometrie.

Das Werkzeug wurde durch zwei sehr dünne Angüsse, die sich an einer der beiden Längskanten des Bauteils befinden, mit dem Werkstoff gefüllt. Die Wanddicken, Verstärkungsrippen und die Abmessungen waren für Metall ausgelegt. Besondere konstruktive Maßnahmen waren nicht vorgesehen, da das Bauteil im Einsatz keinen sehr hohen mechanischen Kräften ausgesetzt ist.

Die so hergestellten Kunststoffplatten waren unbrauchbar – sowohl die Dimensionsstabilität als auch die Oberflächenqualität waren mangelhaft. Zudem versagte das Bauteil bereits beim Montieren der Gasdruckfeder (Bild 1).

LATIGLOSS verbindet hohe mechanische Festigkeit mit hoher Ästhetik

Da die Scharniersysteme in High-End-Küchen zum Einsatz kommen, müssen die Oberflächen glatt und hochglänzend sein und höchsten ästhetischen Ansprüchen genügen. Gerade bei Kunststoffen mit einem sehr hohen Glas- oder Kohlefasergehalt kann es aber zur Ausbildung von Fasernestern an der Oberfläche kommen, die zu einer Beeinträchtigung der Oberflächenqualität führen.

Nachdem die ersten Versuche mit dem glasfaserverstärkten PA nicht zufriedenstellend waren, wandte sich Effegi Brevetti an die Werkstoffspezialisten von LATI. Diese empfahlen LATIGLOSS 66 H2 G/50, ein mit 50 Gew.-% Glasfasern verstärktes Polyamid 66.

LATIGLOSS ist eine Familie von Polyamiden (PA 6 und PA 66) mit Glas- oder Kohlefaseranteilen von bis zu 60 Gew.-%. Dank einer speziellen Rezeptur ermöglichen diese Typen eine sehr hohe Oberflächenqualität, lassen sich in vielen Farben einfärben und eignen sich somit sehr gut für Bauteile im Sichtbereich. Darüber hinaus besitzen sie sehr gute mechanische Eigenschaften und ermöglichen auch bei flächigen Bauteilen wie im vorliegenden Fall eine sehr hohe Dimensionsstabilität.

Optimierung der Bauteilgeometrie

Bild 2. Bei der Montage der Gasdruckfeder auf die Grundplatte wirkende Kräfte.
Bild 2. Bei der Montage der Gasdruckfeder auf die Grundplatte wirkende Kräfte.
Die mangelnde Dimensionsstabilität resultierte vor allem aus der Geometrie und den Abmessungen der Grundplatte. Außerdem konnte während der Kristallisationsphase des Kunststoffs nicht genügend Nachdruck aufgebaut werden, da die dünnen Angüsse sehr schnell einfroren.

Um die Bauteilgeometrie, und damit die Festigkeit und das Langzeitverhalten der Grundplatte zu optimieren, führte LATI in enger Zusammenarbeit mit Effegi Brevetti umfangreiche FE-Analysen durch.

Für die Untersuchungen wurden die folgenden Faktoren genauer betrachtet:

  1. die Kräfte, die bei der Montage der Gasdruckfeder sowie beim Öffnen und Schließen der Tür auftreten, sowie
  2. die Kräfte, die in der Ruhestellung der Gasdruckfeder bei geschlossener Tür auf die Grundplatte einwirken und über die gesamte Gebrauchsdauer zum Kriechen des Werkstoffs führen können, so dass die korrekte Funktion des Scharniersystems nicht mehr gegeben ist.

Bei der Montage der Gasdruckfeder wirkt eine Kraft von 800 N auf die auf der Grundplatte befindlichen Befestigungsbolzen, was zum sofortigen Versagen der mit dem Druckgusswerkzeug hergestellten Bauteile führte (Bild 2). Die FE-Analyse bestätigte dieses Ergebnis und demonstrierte zugleich die Schwachstellen des Kunststoffbauteils: Das Bauteilversagen trat vor allem in Bereichen ungünstiger Glasfaserorientierung sowie an den Fließlinien auf.

Um die langzeitig durch den Gasdruckkolben wirkenden Kräfte und ihren Einfluss auf die Lebensdauer der Grundplatte zu bestimmen, wurde diese auf eine feste Oberfläche montiert. Die Tests zeigten, dass sich das Bauteil nach zehn Jahren im Einsatz so verformen würde, dass eine zuverlässige Funktion des Scharniersystems nicht mehr gegeben wäre.

Bild 3. Bauteil mit optimierter Geometrie
Bild 3. Bauteil mit optimierter Geometrie
In weiteren FE-Simulationen bestimmten die Konstrukteure anschließend die optimale Positionierung und Dicke von Verstärkungsrippen, um das Bauteilverhalten zu verbessern. Zudem wurden die Wanddicken überarbeitet, um die Vorteile einer starken Glasfaserorientierung entlang der Linien mit der höchsten Krafteinwirkung zu nutzen.

Dank dieser konstruktiven Maßnahmen konnten die Spannungen, die zum vorzeitigen Versagen des Bauteils geführt hatten, deutlich reduziert werden: Die Mises-Vergleichsspannung wurde um mehr als 50 % von 100 MPa auf etwas ca. 40 MPa verringert.

Zudem gelang es, die durch Kriechen des Werkstoffs hervorgerufene plastische Verformung der Grundplatte nach einer Einsatzdauer von zehn Jahren auf 0,2 mm zu reduzieren – ein Wert, der innerhalb der Toleranz liegt (Bild 3).

Optimierung des Fertigungsprozesses

Bild 4. Die Verformungen der Grundplatte konnten auf die Glasfaserorientierung, vor allem entlang der Verstärkungsrippen, zurückgeführt werden.
Bild 4. Die Verformungen der Grundplatte konnten auf die Glasfaserorientierung, vor allem entlang der Verstärkungsrippen, zurückgeführt werden.
Der nächste Schritt war eine umfassende Simulation des Spritzgießprozesses durch LATI mit Hilfe der Moldflow-Software. Ziel war die Optimierung der Fertigungsparameter, um die vorgegebenen Toleranzen einzuhalten. Zudem testete das Unternehmen verschiedene konstruktive Veränderungen am Bauteil wie zusätzliche Verstärkungsrippen, die eine Verformung der Grundplatte beim Abkühlen verhindern sollen.

Die Fertigungsparameter für LATIGLOSS sind ähnlich denen anderer glasfaserverstärkter Polyamid 66 Typen mit hohem Glasfasergehalt. Eine optimale Oberflächenqualität lässt sich mit einer Werkzeugtemperatur von 80 °C bis 90 °C erzielen.

Die Verformungen der Grundplatte konnten auf die Glasfaserorientierung, vor allem entlang der Verstärkungsrippen, zurückgeführt werden (Bild 4). Abhilfe schafften zusätzlich eingebrachte Fließhilfen sowie eine Optimierung der Wanddicken. Durch die verbesserte Planizität lassen sich Grundplatte und Scharniersystem zudem einfacher montieren.

Weitere Kunststoffbauteile

Auf Grund der guten Erfahrungen bei diesem Pilotprojekt, das dank der engen Zusammenarbeit zwischen Konstrukteuren und Materialspezialisten erfolgreich abgeschlossen werden konnte, hat sich Effegi Brevetti dazu entschlossen, LATIGLOSS auch für weitere Elemente des Beschlagsystems einzusetzen. Gründe hierfür sind die hohe Oberflächenqualität der Kunststoffbauteile sowie ihre sehr guten mechanischen Eigenschaften.


Über LATI: Die LATI Industria Termoplastici S.p.A. gehört zu den führenden europäischen Herstellern von technischen Kunststoffen. Das Unternehmen verfügt über mehr als 60 Jahre Erfahrung im Bereich Kunststoffe und genießt bei Kunden und Partnern einen guten Ruf in Bezug auf Qualität und Service. Das Portfolio umfasst 2.500 verschiedene Typen, darunter zahlreiche maßgeschneiderte Compounds, die weltweit vertrieben werden. Zu den Spezialitäten gehören Hochleistungskunststoffe, selbstlöschende, selbstschmierende sowie verstärkte und gefüllte Compounds für die Elektro- und Elektronik-, die allgemeine Industrie und das Transportwesen. Das Unternehmen beschäftigt ca. 250 Mitarbeiter und hatte 2008 einen Umsatz von 115 Millionen Euro.


LATI Industria Termoplastici Deutschland GmbH

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