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23.10.2009 | Lesedauer: ca. 10 Minuten    

Tschechien: Gummi- und Kunststoffbranche muss diversifizieren

Im Zuge der Rezession muss die junge tschechische Gummi- und Kunststoffbranche mit zum Teil deutlich gesunkenen Aufträgen und Umsätzen sowie rückläufiger Arbeitsproduktivität kämpfen. Durch den hohen Anteil konjunkturabhängiger Waren wie Autoreifen, Kfz-Komponenten, Baubedarfsartikel, Computerteile oder Transportverpackungen ist eine Erholung an die entsprechenden Branchen gebunden und an die Entwicklung beim Haupthandelspartner Deutschland. Die Importe sind im 1. Halbjahr 2009 um fast 30% eingebrochen.

Rüdes Erwachen nach goldenen Zeiten
Nach mehr als einem Jahrzehnt mit außergewöhnlicher Wachstumsdynamik zwischen 10 und 20% haben die Gummi- und Kunststoffverarbeitenden Unternehmen in der Tschechischen Republik 2008 den ersten Dämpfer erlebt. Der Produktionsindex ging um 0,6% leicht zurück, bedingt durch den konjunkturellen Einbruch im 4. Quartal, mit dem Tschechien in die Rezession abrutschte. 2007 hatte der Sektor seine Produktion noch mit rund 20% enorm gesteigert und dürfte mit diesem Tempo unter den EU-Ländern erneut an der Spitze gelegen haben. Solche Höhenflüge waren Ausdruck der boomenden Wirtschaft und emsiger Investitionstätigkeit. Allein seit 2002 sind rund 1,6 Mrd. Euro an ausländischen Direktinvestitionen in die tschechische Gummi- und Kunststoffverarbeitung geflossen.

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Das Gewicht der Branche ist mit einem Anteil von 6,0% an den Industrieumsätzen vergleichsweise hoch. Ihr Exportschwerpunkt ist die EU (85% der Ausfuhren und 86% der Einfuhren). Deutschland bleibt mit Abstand wichtigster Außenhandelspartner, der in der EU führende Hersteller von Kautschuk- und Kunststoffwaren. Das gemeinsame Handelsvolumen umfasste 2008 fast 81 Mrd. Tschechische Kronen (Kc; 2008: 1 Euro = 24,942 Kc), negativ beeinflusst von der sinkenden Nachfrage nach Gummi- und Kunststoffwaren. Nach Berechnungen des Tschechischen Verbandes der Chemieindustrie ging diese in Tschechien auf ein Volumen von rechnerisch 189 Mrd. Kc (6,8 Mrd. Euro) zurück. Fast 60% dieses Bedarfs wird über Einfuhren abgedeckt.

Als typische Zulieferindustrie hängen Kunststoff- und Kautschukverarbeitung erheblich vom Wohl und Wehe ihrer Abnehmerbranchen ab. Die schlechte Verfassung von Automobilindustrie, Bauwirtschaft und Elektrotechnik drückt schwer auf das Geschäft. In Tschechien zeigte im 1. Halbjahr 2009 überhaupt nur die Kundengruppe der Nahrungsmittelverarbeiter sowie Schienenfahrzeughersteller ein Wachstum. Hingegen nahm im Zuge des übrigen verarbeitenden Gewerbes auch der Produktionsindex der Gummi- und Kunststoffverarbeitenden Industrie deutlich ab: auf Vorjahresbasis im 1. Quartal um 18,5% und im 2. Quartal um 16,7%. Prognosen für das Gesamtjahr liegen nicht vor. Obwohl Tschechiens Wirtschaft im Sommer die Talsohle erreicht zu haben schien, fehlten die Anzeichen für eine nachhaltige Aufwärtsentwicklung. Da der Auftragseingang der Gummi- und Kunststoffbranche vom Statistikamt nicht erfasst wird, mögen die Auftragswerte der wichtigsten Kunden eine Orientierung geben, mit welchen Rückgängen zu rechnen ist: Kfz-Industrie (1. Quartal: -29,5%; 2. Quartal: -16,2%); Computer- und Elektronikbranche (-14,6; -17,3). Insgesamt verzeichnete die Industrie im 1. Halbjahr 2009 einen Bestellungseinbruch um fast ein Viertel auf Vorjahresbasis.

Klar ist eins: Die goldenen Zeiten zweistelliger Umsatzzuwächse sind für die Gummi- und Kunststoffbranche vorerst vorbei. Schon 2008 nahmen die Erlöse aus dem Auslandsgeschäft um 2,1 % auf 91,9 Mrd. Kc ab, die Inlandsumsätze um 8,1% auf 97,5 Mrd. Kc. Wegen neuer Erhebungsmethoden liefert das Tschechische Statistikamt seit Anfang 2009 keine nominalen Umsatzangaben mehr. Ein Blick auf die Zahl der Mitarbeiter spricht Bände darüber, wie die Unternehmen auf die neue rüde Wirklichkeit reagierten: Registrierte das Statistikamt im 4. Quartal 2008 noch über 85.600 Beschäftigte in der Produktion von Gummi- und Kunststoffwaren, waren es im 1. Quartal 2009 nur noch 78.300. Der durchschnittliche Bruttomonatslohn, der 2008 nominal noch um 8,3% auf 21.337 Kc gestiegen war, ging auf 20.343 Kc zurück.

Vor allem die Automotive-Lastigkeit macht der Branche zu schaffen. Der Absatzeinbruch bei den Autos schlug denn auch ohne Verzögerung durch. Kaum ein Unternehmen, das seit dem 4. Quartal 2008 nicht Produktion und Arbeitszeiten zurückfahren musste - angefangen von den umsatzstärksten Riesen in beiden Teilsegmenten, Barum Continental (Reifen) und die seit Mai zum Magna-Konzern gehörende Cadence Innovation (Kunststoffteile), über große Kfz-Zulieferer wie Plakor Czech, Saar Gummi Czech, Rubena, Gumotex, Stival Automotive, SAS Automotive, IAC Group, bis hinunter an die Basis der zahlreichen Firmen, die in der Lohnfertigung oder Montage für Kunden in der Kfz-Industrie tätig sind.

"Plötzlich war da ein großes Loch", beschreibt Hans-Jürgen Bönsch, Geschäftsführer der Firma Nativel in Stochov die Situation, als sein wichtigster Kunde aus der Kfz-Branche Ende 2008 nach Rumänien verlagerte. "Da von Tschechien aus nicht mit rumänischen Löhnen mitzuhalten ist, fielen plötzlich zwei Drittel des jährlichen Umsatzes fort". Als Tochter des deutschen mittelständischen Familienunternehmens HJS Schmidt Kunststoff GmbH stellt Nativel technische Spritzgussteile her und montiert elektronische Schaltgruppen. Mit einer starken Eigenkapitalquote versehen und dank einer konservativen Geschäftspolitik nicht durch Bankkredite oder Leasingraten belastet, hatte das Unternehmen in der Krise zwar einen besseren Stand als manche Wettbewerber. Dennoch musste der Mitarbeiterstab der Auslastung angepasst werden und schrumpfte nach einer Phase der Kurzarbeit von 130 auf 40 Beschäftigte. Im Sommer 2009 konnte ein neuer Kunde aus dem Automotive-Sektor gefunden werden. "Das neue Produkt, ein Bremsanlagenteil, ist universell, das heißt, geht an verschiedene Pkw-Hersteller und gibt damit größere Sicherheit", erklärt Bönsch. Seither wird wieder Personal aufgebaut, ist die Auslastung der Spritzgussmaschinen zufriedenstellend. Entspannt aber wirkt der Unternehmer nicht. "Tschechien hat als Standort in Südosteuropa starke Konkurrenz bekommen", sagt er mit Blick auf den unerbittlichen Preisdruck in seinem Geschäft. Auch das Währungsrisiko bereite Exporteuren große Probleme, und eine Euro-Einführung sei nicht in Sicht.

Generell zeichnete sich im Sommer eine vorsichtige Dynamik ab, wobei die Stimmung angespannt blieb. Durch die Produktion von Winterreifen gab es bei Barum Continental einen Schub. Manche Unternehmen nahmen die Kurzarbeit zurück. Es gab Investitionsmeldungen. Toyota Gosei Czech fuhr die Produktion von Lenkrädern und Airbags in Klasterec nad Ohri wieder hoch und arbeitet erneut an fünf Tagen in der Woche. Eine neue Halle für Kunststoffteile zur Innenausstattung eröffnete EuWe Eugen Wexler CR im Mai in Rokycany und erwägt je nach Marktlage weitere 100 Mio. Kc in Anlagen zu investieren.

Saar Gummi Czech gelang es dank neuer Aufträge die zurückgefahrene Werkskapazität von Karosseriedichtungen auf 90% zu steigern. Das Unternehmen investierte zur Jahresmitte 100 Mio. Kc in die Fertigung von Thermoplast-Dichtungen. Die tschechische Tochter der schwedischen Trelleborg Fluid Solutions produzierte mehr Gummidichtungen für Autoheizungen und -kühlung und wollte neue Mitarbeiter einstellen. Das zur indischen Samvardhana Motherson Group gehörende Unternehmen MSSL Advanced Polymers startete Investitionen in eine neue Halle für Plastikkomponenten. Über dem gesamten Autosektor aber hing die Frage, was nach dem Auslaufen der deutschen und einem Dutzend weiterer Verschrottungsprämien kommen mag, die den Markt zwischenzeitlich beflügelt haben.

Auch für die baubezogene Kunststoffverarbeitung sind durch das abrupte Ende des Baubooms härtere Zeiten angebrochen. Nach acht Jahren ununterbrochenen Wachstums hatte die Bauproduktion 2008 stagniert. Im 1. Halbjahr 2009 ging es dann abwärts - um real 4,8% auf Vorjahresbasis. Herabgezogen wurde die Bauwirtschaft durch den Hochbau (-11,7%), während sich der Tiefbau sehr gut entwickelte (16,4%). Da 2009 deutlich weniger in Wohnungen, Büro- und Gewerbegebäude investiert wird, sinkt die Nachfrage nach Baubedarfsartikeln aus Plastik, Kunststofffenstern, Kunststoffrohren, Beschlägen, Wannen und Duschkabinen. Im 1. Halbjahr gingen die Einfuhren in diesen Kategorien um 16 bis 30% zurück.

Die Unternehmen setzen nun verstärkt auf energieeinsparende Produkte und hoffen auf das gut dotierte Gebäudeeffizienzprogramm "Zelena usporam", das im Rahmen des Konjunkturpakets im Mai eingeführt wurde. Es sieht etwa 250.000 Wärmeisolierungs-Projekte bei Familienhäusern und Wohnungsgebäuden vor. Weil die Finanzierung des Programms (10 Mrd. Kc) aus dem Verkauf von CO2-Emissionen an Japan stammt, muss der Mitteleinsatz bestimmten Effizienz-Kriterien genügen. Zum Leidwesen der abhängigen Branchen wurden die Ansprüche so hoch gesteckt, dass es kaum Bewerber gab. "Mittlerweile sind die Auflagen entschärft worden", sagt Frantisek Vörös, Berater beim Verband der Hersteller und Verarbeiter von Schaumstoffpolystyren (EPS). "Es gibt also Hoffnung, dass jetzt endlich mehr Projekte vorgelegt werden, doch Effekte auf die Nachfrage, etwa nach Dämmungsmaterialien wie EPS, werden sich erst im kommenden Jahr zeigen." Aufgrund der wachsenden Sensibilität für Energieeffizienz hat die Nachfrage nach EPS Vörös zufolge 2008 um 14% auf 55.100 t weiter angezogen. Damit habe sich der Markt seit 2000 verdreifacht. Wichtige Produzenten von EPS-Dämmplatten wie Rigips, Bachl, Styrotrade, haben jüngst ihre Kapazitäten ausgebaut. Investiert wird verstärkt in die Entwicklung.

Von dem Energiespartrend profitieren grundsätzlich auch die Hersteller von Kunststofffenstern. Doch verstärkt die Wirtschaftskrise in diesem fragmentierten Segment den Konsolidierungsdruck. So musste AQ Okna, bislang drittgrößte Firma auf dem tschechischen Kunststofffenster-Markt, im August 2009 Insolvenz anmelden. Andere Spieler wie O.K.R. Okna und V.I.P. Okna kämpfen ums Überleben. Profitieren können davon Konkurrenten wie die Window-Holding, die mittlerweile die Unternehmen Otherm, Vekra und Top Wood Windows verbindet, aber auch wichtige Fensterhersteller wie Hoco Bauelemente, RI Okna, Sulko, Bohemia Plast.

Gemischt ist das Bild bei den Herstellern von Kunststoffverpackungen. Während technische und Transportverpackungen von der Rezession in Mitleidenschaft gezogen werden, sind die Verpackungsmittel für die Nahrungsmittelindustrie konjunkturunabhängiger. Der Nachfrage nach Lebensmittelverpackungen kann die Krise offenbar nichts anhaben. Viele Unternehmen in diesem Segmenten waren denn auch im Mai auf der Brünner Messe EmbaxPrint zuversichtlich gestimmt. So konnte die tschechische Tochter von Alcan Packaging Food Europe trotz der Krise in den ersten Monaten ihre Umsätze um 20% steigern und den Gewinn sogar verdoppeln. Als einen der Gründe nannte Generalmanager Michal Uher, dass sich sein Unternehmen bei kurzfristigen Aufträgen, zu denen die Kunden in unsicheren Zeiten neigten, verstärkt gegenüber Wettbewerbern durchsetzen konnte. Im November eröffnet Alcan Packaging in Novy Bydzov ein Werk für Kunststofffolien und andere Lebensmittelverpackungen, will 100 neue Beschäftigte einstellen und den Ausstoß vervierfachen.

Auch der größte Produzent von Plastikbechern, die zur italienischen Dopla-Gruppe gehörende Dopla Pap in Susice, steckt im Umbau- und Erweiterungsprozess. Bereits 2008 hatte der Betrieb mit 4,3 Mio. Plastikbecher 10% mehr hergestellt als 2007. Unberührt von der Krise ist auch der führende Hersteller von Kunststoffverschlüssen Viroplastic CZ, Tochter des gleichnamigen italienischen Konzerns. 1,2 Mrd. Verschlüsse will sie 2009 herstellen, von denen die Hälfte ins Ausland geht.

Für 2010 zeigen sich die Unternehmen verhalten optimistisch. Sollte es zu einem Wirtschaftswachstum kommen, wird die Gummi- und Kunststoffverarbeitende Branche als Zulieferer der wesentlichen Industriesegmente mit von der Partie sein. Zugleich weist das tschechische Defizit im Außenhandel mit Kunststoffprodukten noch auf Reserven hin (2008: 750 Mio. Euro). Zu den Stärken des Sektors rechnet das Ministerium für Industrie und Handel die Ansiedlung ausländischer strategischer Mitspieler sowie die solide Rohstoffbasis bei primären Polymeren und synthetischem Kautschuk. Für die Grundversorgung mit primären Kunststoffen sorgen Unipetrol (Polyolefine), Synthos (PS und EPS), Spolana (PVC), Spolchemie (ungesättigte Harze). 2008 produzierten sie schätzungsweise 1,15 Mio. t primäre Kunststoffe. Als Schwäche nennt das Ministerium den relativ niedrigen Anteil von hoch entwickelten Kunststoffprodukten, ein gering ausgeprägte Spezialisierung und die völlige Abhängigkeit von der Einfuhr natürlichen Kautschuks sowie bei vielen Baukunststoffen.

Grundsätzlich profitiert die Branche von dem weltweit vorherrschenden Substitutionstrend, das heißt dem Bemühen, teure, schwere oder knappe Ressourcen wie Glas, Metall, Keramik oder Holz durch Kunststoffe und Kunststoffprodukte zu ersetzen. "Der Trend geht zu leichteren, günstigeren, umweltfreundlichen Materialien, und da ist Kunststoff als Werkstoff unverzichtbar", sagt Frantisek Vörös, der im Chemieverband der Tschechischen Republik zugleich den Interessensverband der Kunststofferzeuger in Europa, PlasticsEurope, berät. Neben Herstellung und Verarbeitung weist er auf ein weiteres Potenzial von Kunststoffen hin, das in Tschechien erst ungenügend genutzt werde - ihre Abfallseite. 381.000 Tonnen Kunststoffabfälle hat das Land 2007 produziert, davon aber nur gut ein Drittel verwertet. Der Großteil landete mit 66% auf Deponien.

Weiterführende Informationen

Germany Trade and Invest – Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH, Berlin + Köln

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