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24.07.2025, 08:06 Uhr | Lesedauer: ca. 3 Minuten    

bvse: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“ - Vizepräsident Dr. Herbert Snell im Interview über die Krise der Kunststoffrecycler

Dr. Herbert Snell, bvse-Vizepräsident - (Bild: bvse).
Dr. Herbert Snell, bvse-Vizepräsident - (Bild: bvse).
Herr Snell, wie würden Sie die aktuelle Situation der Kunststoff­re­cyc­ling-Branche beschreiben?
Herbert Snell: „Die Lage ist dramatisch. Wir erleben eine tiefgreifende Marktkrise, die nahezu die gesamte Kunst­stoff­wert­schöpfungs­kette betrifft – von der Produktion über die Verarbeitung bis hin zum Recycling. Die Nachfrage in der Industrie ist seit zwei Jahren rückläufig, was zu einem massiven Preisverfall bei Neuware wie auch bei Rezyklaten geführt hat. In dieser ohnehin angespannten Situation wird Recycling für viele Unternehmen schlichtweg unrentabel – nicht zuletzt wegen der extrem hohen Energiepreise in Deutschland.“

Wie dramatisch ist die Lage am Markt konkret?
Herbert Snell: „Die von Plastics Recyclers Europe erhobenen Daten sprechen eine deutliche Sprache: 135 kt Produktionsstilllegungen im Jahr 2023, 280 kt im Jahr 2024. Für das laufende Jahr sieht es nicht besser aus. Besonders betroffen: die Niederlande, das Vereinigte Königreich und leider auch Deutschland.“

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Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe für die wirtschaftliche Schieflage?
Herbert Snell: „Es ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Zunächst fehlt es nach wie vor an einem echten politischen Willen, Rezyklate strategisch und nachhaltig einzusetzen. In der Praxis kommen recycelte Kunststoffe nur dann zum Einsatz, wenn sie günstiger sind als Neuware – was aktuell kaum der Fall ist. Hinzu kommt ein zunehmender Wettbewerbsdruck durch illegale Rezyklatimporte, die nicht den europäischen Standards entsprechen und den Markt verzerren. Gleichzeitig lähmen Bürokratie, Überregulierung und Fachkräftemangel die Unternehmen. Die Kreislaufwirtschaft bleibt ein Lippenbekenntnis, solange die strukturellen Hemmnisse nicht abgebaut werden.“

Wie wirkt sich diese Entwicklung konkret auf die Unternehmen aus?
Herbert Snell: „Die Zahl der Betriebsschließungen und Insolvenzen nimmt zu, die Produktionsleistung geht zurück, Investitionen werden zurückgefahren oder ganz gestoppt. Allein zwischen 2020 und 2023 wurden in Europa über fünf Milliarden Euro in den Ausbau von Recyclingkapazitäten investiert – Investitionen, die nun akut gefährdet sind. Wenn die Politik nicht entschlossen gegensteuert, droht ein massiver Rückbau der Branche.“

Welche Maßnahmen sind jetzt notwendig?
Herbert Snell: „Wir brauchen eine echte industriepolitische Kehrtwende. Europa muss den Markt für recycelte Kunststoffe schützen und fair regulieren – etwa durch eigene Zollcodes und klare Nachhaltigkeitsvorgaben für Importe. Es muss sichergestellt werden, dass nur Produkte auf den Markt kommen, die europäischen Umwelt- und Qualitätsstandards entsprechen. Geltendes Recht muss durchgesetzt werden. Gleichzeitig müssen Energiepreise gesenkt und gezielt entlastende Maßnahmen für energieintensive Recyclingprozesse geschaffen werden. Recyclingbetriebe dürfen bei der Klassifizierung durch die Behörden nicht länger benachteiligt werden.“

Was muss auf europäischer Ebene geschehen?
Herbert Snell: „Der Binnenmarkt für Abfälle muss gestärkt und vereinheitlicht werden. Es darf nicht sein, dass für Importe niedrigere Standards gelten als für heimische Rezyklate. Nur mit einem einheitlichen, durchsetzungsstarken regulatorischen Rahmen schaffen wir Vertrauen – nicht nur innerhalb Europas, sondern auch auf dem Weltmarkt. Zudem müssen Genehmigungsverfahren für neue Anlagen deutlich beschleunigt werden. Recyclingbetriebe dürfen nicht in jahrelanger Planungsunsicherheit verharren.“
Was erwarten Sie konkret von der Politik?
Herbert Snell: „Die Politik muss endlich die Voraussetzungen schaffen, damit Recycling wirtschaftlich tragfähig bleibt. Dazu gehören finanzielle Anreize, steuerliche Vorteile für Produkte mit EU-Rezyklatanteil und eine nachhaltige öffentliche Beschaffung. Auch die Herstellerverantwortung muss reformiert werden – etwa durch Ökomodulationsmodelle, die den Einsatz europäischer Rezyklate belohnen. Und nicht zuletzt muss der Zugang zu europäischen Fördermitteln erleichtert werden.“

Und wenn das alles nicht passiert?
Herbert Snell: „Dann verfehlt Europa nicht nur seine Klimaziele, sondern gefährdet auch einen zentralen Pfeiler der industriellen Zukunft. Kunststoffrecycling ist kein Nischenthema – es ist ein Schlüsselbereich für Ressourcensicherheit, für nachhaltiges Wirtschaften und für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Ohne entschlossene Maßnahmen wird aus einer Krise ein Strukturbruch. Und der ist am Ende nicht mehr zu reparieren.“

Weitere Informationen: www.bvse.de

Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung e.V., Bonn

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